[p. 307] Der Einfluß der Papsturkunde auf die Urkunden der normannischen Könige Siziliens
Als Roger II. 1130, nach der Vereinigung der unteritalienischen Herrschaftsgebiete der Normannen in seiner Hand, sich zum König erheben ließ, brach er als Parvenü in ein noch labiles Kräfteverhältnis der europäischen Politik ein.1 Bedroht von den einander widersprechenden päpstlichen, kaiserlichen und byzantinischen Herrschaftsansprüchen in Unteritalien, suchte er zunächst die Legitimierung durch den Gegenpapst Anaclet II. und erzwang 1139 auch die Anerkennung seines Königtums durch dessen Gegenspieler Innozenz II., ohne daß damit die Spannungen mit dem päpstlichen Lehnsherrn beseitigt worden wären. Erst im Gefolge des zweiten Kreuzzuges und angesichts der unnachgiebigen Italienpolitik Friedrich Barbarossas kam es 1156 im Vertrag von Benevent zum Schulterschluß zwischen Papst und Normannenkönig, der für die nächsten dreißig Jahre ein Eckpfeiler der antistaufischen Koalition sein sollte, bevor Heinrich VI. 1194 die unio regni ad imperium vollzog und in Sizilien die „epoca sveva“ einläutete.2
Vor diesem nur skizzenhaft gezeichneten Rahmen wird man das mir gestellte Thema substantiell auf die Betrachtung der Privilegien und Mandate einschränken können, denn Placita und Plateae sind von untergeordneter Bedeutung und haben auf päpstlicher Seite kein Pendant.3 Man wird [p. 308] weiter zu berücksichtigen haben, daß erst das neu errichtete Königtum Rogers II. Veranlassung hatte, auch auf dem Feld der Urkundenausstellung „internationale Beziehungen“ anzuknüpfen.4 Die Urkunden der normannischen Herren Unteritaliens, etwa Roberts Guiscard,5 folgen bis dahin den landesüblichen Vorbildern,6 und von einer lateinischen Kanzlei kann man vor 1127 nicht sprechen, da Roger I. und Roger II. zunächst überwiegend griechisch geurkundet haben; lateinische Urkunden wurden bei Bedarf von einem Kapellan oder vom Empfänger selbst geschrieben, 1126–29 von Rogers II. Kapellan Guarnerius.7 Dieser Ein-Mann-Betrieb ist fortan für die Königszeit Rogers II. die Regel, wenngleich nunmehr getragen von laikalen Berufsnotaren. Vor allem der 1132–36 bezeugte Wido verleiht der lateinischen Königsurkunde jene Form, an der sich die Nachfolger bis zum Ausgang der Normannenzeit und darüber hinaus orientiert haben, auch wenn zu Beginn der „epoca sveva“ vorübergehend deutsche Kanzleibräuche eindringen.
Das Griechische, das noch unter Roger II. gegenüber dem Latein im Verhältnis von etwa 4:1 dominierte, spielt seit Wilhelm I. keine Rolle mehr;8 arabische Urkunden bzw. Urkundenteile waren stets nur von untergeordneter Bedeutung gewesen.9 Insofern weckt die bekannte Darstellung [p. 309] der normannischen Königskanzlei bei Petrus von Eboli (1195/97), besetzt mit notarii Greci, Saraceni und Latini, falsche Vorstellungen.10
Tragen wir zunächst summarisch zusammen, wo die jüngste Forschung päpstlichen Einfluß auf die normannische Königsurkunde hat ermitteln können.
Die Königsurkunde bevorzugt wie die Papsturkunde die sogenannte charta transversa,11 die aber auch sonst im Süden weit verbreitet war.12 Bis 1144 ausschließlich verwendet, neigt das Format in der Folgezeit immer häufiger zu quadratischen und tendenziell zu kleineren Formen.13 Sehr stark nehmen in der Zeit der Wilhelme, v.a. unter Wilhelm II., die an den päpstlichen litterae orientierten Mandate zu,14 die „im ausgehenden 12. Jahrhundert eindeutig die Rolle des eigentlichen Verwaltungs- und damit Regierungsinstruments“ übernehmen.15
Als Schrift steht die verwendete diplomatische Minuskel der nachkurialen Papsturkunde16 natürlich näher als etwa der im Süden noch im 11. Jh. [p. 310] vorherrschenden Beneventana und fügt sich damit zugleich in die europäische Norm. Ob man also mit Chalandon eher französischen Einfluß anzunehmen habe17 oder mit Garufi zunächst unter Roger II. französischen, dann unter Wilhelm II. aber päpstlichen Einfluß,18 lasse ich angesichts des süditalienischen „multigrafismo“ und mangels ausreichender Vorarbeiten ausdrücklich offen,19 bemerke aber, daß z.B. der vermeintlich französische Notar Rogers II., Oddo von „Reims“, zu streichen ist20 und sich auch für die Folgezeit kein einziger französischer Notar sicher nachweisen läßt, während das Vorbild der Papsturkunde im 12. Jh. bekanntlich auch auf die Kaiserurkunde zurückwirkt.21
Die Majuskelauszeichnungsschrift der Eingangszeile ist bereits aus der apulischen Herzogskanzlei bekannt und verleiht der normannischen Königsurkunde ein signifikantes Gepräge.22 Eine eigentliche Elongata verwendet in der frühen Königszeit der Notar Wido, meist sogar in den beiden ersten Zeilen und zusätzlich in der Datatio, was beides nicht dem Vorbild der Papsturkunde entspricht.23 Vorübergehend verwendet ein anonymer Notar in den Jahren 1140–44 erneut die Elongata für die erste Zeile; deutschem Kanzleivorbild dürften die wenigen Beispiele aus der Frühzeit [p. 311] Konstanzes folgen.24 Von der Papsturkunde beeinflußt sind jene schmucklosen Mandate, die allenfalls den Ausstellernamen in Majuskeln hervorheben, was in den zeitgenössischen Privaturkunden meines Wissens nicht Brauch war.25
Zu Recht bezweifelt hat Brühl die Vermutung, daß das gelegentlich am Ende der Corroboratio begegnende, kommaartige Schlußzeichen (.,. oder .,. oder ähnlich) von dem sogenannten päpstlichen „Komma“ abgeleitet sein könnte.26 Brühl selbst denkt an Übernahme aus der apulischen Kanzlei, doch scheinen solche Schlußzeichen weiter verbreitet und die päpstliche Ausformung nur eine besonders auffällige, aber bekanntlich ephemere Variante zu sein, die im 12. Jh. nicht mehr begegnet.
Parallel zu dem „Komma“ hat Leo IX. die Rota in die Papsturkunde eingeführt, die in vergleichbarer Ausführung auch in den lateinischen Urkunden von Roger II. bis Wilhelm II. (bis 1184) und dann noch einmal unter Wilhelm III. begegnet, von Tankred, Konstanze und Friedrich II. also nicht verwendet wurde.27 Der älteste Beleg stammt von 1129, also noch aus der Herzogszeit,28 aber wiederum erst unter Wido wird die Rota fester Bestandteil der Königsurkunde und bedingt erstmals auch eine deutliche optische Gliederung der Königsurkunde durch Absetzen der Datatio.29 Nach der grundlegenden Untersuchung von Joachim Dahlhaus ist nunmehr zweifelsfrei klargestellt, daß die päpstliche Rota das Vorbild für alle folgenden Rotae in Süditalien und Spanien und vielleicht sogar für ein frühes Monogramm Lothars III. gewesen ist.30 Aber in der sizilischen Königsurkunde [p. 312] wird die Rota spätestens seit 1140, vielleicht schon seit 1136, mit roter Tinte gezeichnet, was nicht mehr dem päpstlichen Vorbild entspricht, sondern das sacrum encaustum des byzantinischen Kaisers imitiert.31 Auch lehnt Brühl Kehrs These ab, daß mit der Devise: Benedictus Deus et pater domini nostri IHESU XPI am(en) der Wahlspruch Urbans II. übernommen wurde, sondern plädiert wie bei: Adiuva nos Deus salutaris noster für eine unvermittelte Entlehnung aus der Bibel.32
Während Papsturkunden ausschließlich mit Bleibullen besiegelt zu werden pflegten, benutzten die Normannenherrscher schon in vorköniglicher Zeit Bleibullen für Privilegien, siegelten ganz feierliche Urkunden mit Goldbullen33 und verwendeten spitzovale rote Wachssiegel für weniger feierliche Urkunden, in der Regel für Mandate. Der Gebrauch von Bleibullen und Wachssiegeln war im kirchlichen und weltlichen Bereich Unteritaliens weit verbreitet,34 die Präponderanz der Bleibulle dürfte auf byzantinisches Vorbild zurückgehen.35 Auch das Siegelbild, der stehende bzw. thronende Herrscher, zeigt, daß die päpstlichen Bullen nicht Vorbild gewesen sein können, sondern daß sich die Normannenkönige – wie in Gewandung, Zeremoniell und autokratischem Herrschaftsverständnis – am byzantinischen Kaiser orientierten,36 während sie die spitzovale Form [p. 313] der Wachssiegel aus ihrer normannischen Heimat mitgebracht haben dürften.37 Das Thronsiegel begegnet im Westen bekanntlich erstmals unter Otto III., wiederum als signifikante Anleihe aus Byzanz,38 und ist im 11. Jh. zur verbindlichen europäischen Norm geworden,39 der sich in Deutschland um 1100 auch die Bischöfe angleichen.40
Damit sind die äußeren Parallelen zur Papsturkunde erschöpft, und der Befund für die inneren Merkmale ist entsprechend. An päpstlichen Vorbildern orientieren sich z.B. die beiden Standardarengen Widos: Convenit omnes und Si iuste postulatio,41 die freilich beide schon in der Herzogskanzlei begegnen, in der wie in der langobardischen Fürstenurkunde solche Standardarengen nicht ungewöhnlich sind.42 Nach dem Tod Widos werden die Standardarengen von individuellen Formulierungen abgelöst, die wohl stärker eine gemeinsame Wurzel in der lateinischen Liturgiesprache haben.43
Vor Wido hatte schon Guarnerius die Arenga Si iuste postulatio verwendet,44 ebenso den Eapropter-Anschluß zur Promulgatio45 bzw. Dispositio,46 wie überhaupt man wird sagen dürfen, daß dieser Kapellan das Formular der normannischen Königsurkunde vorgeprägt hat und sich dabei [p. 314] deutlich erkennbarer Spolien der Papsturkunde bediente. D Ro.II.7, die letzte lateinische Grafenurkunde (a.1126), liefert dafür ein schlagendes Beispiel,47 und die letzte lateinische Herzogsurkunde Rogers II. (D Ro.II.14, a.1129) ließe sich, den Befund bestätigend, danebenstellen. Die der Papsturkunde fremde Corroboratio48 bietet bereits das signifikante ad inditium, das zwar der Papsturkunde entstammt, dort aber den Zinsleistungs-Passus einleitet.49 Die später übliche Konstruktion kündigt Guarnerius noch in der Herzogszeit an.50 Angelehnt an päpstliches Vorbild sind auch die geistliche Poen-51 und die Vorbehaltsformel52 sowie zahlreiche versprengte Textspolien in der Dispositio, z.B.: petitionibus clementius annuentes,53 concessione pontificum, liberalitate principum, oblatione fidelium,54 successores canonice promovendos,55 firma et illibata … permaneant.56 Eine systematische Analyse würde vermutlich diese Reihe noch verlängern können.57
Der Papsturkunde entlehnt ist ebenfalls das gelegentlich, aber keineswegs konsequent verwendete dreifache Amen der Apprecatio, das erstmals 1140 in einer Empfängerausfertigung für die Cappella Palatina am Ende [p. 315] der Corroboratio begegnet58 und nach 1144 wieder verschwindet.59 Die Androhung der königlichen Ungnade, die seit Wilhelm I. häufiger begegnet, hat ihr Vorbild wohl gleichfalls im Papstprivileg.60 Die kolumnenweise Gruppierung der nur gelegentlich bei besonderen Anlässen begegnenden Solemnitätszeugen erinnerte Kehr an das Vorbild der Kardinalsunterschriften, wenn auch eine vergleichbare hierarchische Ordnung schwerlich zu erkennen ist.61 Die Beachtung des Cursus vornehmlich seit der Zeit der Wilhelme dürfte eher allgemeinem Sprachempfinden folgen als direktem päpstlichen Vorbild,62 Florentiner Stil in der Datierung findet sich nur in wenigen Ausnahmefällen.63
Damit sind nun alle wesentlichen Elemente genannt, die bislang auf die Papsturkunde zurückgeführt werden konnten, was Kehr veranlaßte, von einem „mächtigen Einfluss der Papsturkunde“ zu sprechen.64 Aber lang ist auch die Liste jener Elemente, die die normannische Königsurkunde anderen Wurzeln verdankt: Von Byzanz war bereits bezüglich der Bleibullen die Rede. Aber auch die eigenhändige griechische Unterschrift Rogers II. wäre hierher zu ziehen,65 ebenso dessen Purpururkunden für die Pierleoni und für die Cappella Palatina66 oder die für die modifizierte Rota verwendete Rottinte.67
Der Tradition unteritalienischer Fürstenurkunden entstammen weitere Elemente:68 Die heres-et-filius-Formel der Intitulatio, die Nennung des Urkundenschreibers sowie die Corroboratio überhaupt, die Salvator-Formel der Invocatio und schließlich die breiten Majuskeln der Auszeichnungsschrift in der Eingangszeile. Daß nur der Name des Ausstellers hervorgehoben wird, findet sich in weniger feierlichen Papsturkunden,69 der [p. 316] Brauch, den Ausstellernamen abzukürzen, könnte anglonormannischem Vorbild folgen.70
Über den deutschen Einfluß zur Zeit Konstanzes ist hier nicht mehr zu handeln; er blieb im wesentlichen ein ephemeres Ereignis.71 Die häufigste Apprecatio feliciter amen könnte eine Scheinparallele sein.72
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der Einfluß der Papsturkunde auf die normannische Königsurkunde mit Händen zu greifen ist, aber nicht verabsolutiert werden darf. Wie auf anderen Gebieten gingen die Normannenherrscher auch hier eklektisch vor, formten aus unterschiedlichen Traditionen etwas eigenständig Neues, und erst ganz allmählich gelang es so, dem neuen Königtum Rogers II. auch in dieser Hinsicht repräsentative Form zu verleihen: Das unkönigliche Ego der Intitulatio verschwindet erstmals Ende 1136, auf Dauer aber erst seit 1140,73 und parallel dazu findet sich – gleichfalls in einer kanzleifremden Ausfertigung – die reine Schlußdatierung.74 Eine solche begegnet zwar schon bei den apulischen Herzögen, wenn auch ohne Nennung des Ausstellungsortes,75 aber der Aufbau der Datierung, wie ihn die Empfängerausfertigung D Ro.II.48 für die Zukunft vorgibt, folgt ohne Frage dem Papstprivileg,76 und gleiches gilt auch für die Kurzdatierung der Mandate.
Die stärksten Anlehnungen an die äußere Form der Papsturkunde lassen sich in der Frühphase des Königtums Rogers II. bei dem Notar Wido ausmachen,77 einem Laien unbekannter Herkunft, der in einer Zeit wirkte, als [p. 317] das Verhältnis zwischen dem neuen König und seinem päpstlichen Lehnsherrn noch durchaus gespannt war, aber der – auch formale – Legitimierungsdruck vielleicht am größten. Im Formalen bereitete dagegen bereits sein Vorgänger, der Kapellan Guarnerius, vielfach den Weg. Man könnte von einem am päpstlichen Vorbild orientierten Rohbau sprechen, dessen Innenarchitektur durch Stilmischung geprägt ist. Schon nach 1136 konstatierte Brühl „quella svolta che lo condurrà ad un alto grado di autosufficienza e ad una forma di diploma ‚sui generis‘“,78 und diese „Wendung zur höheren Eigenständigkeit“ machte sich besonders in der Zeit der Wilhelme, bei doch insgesamt konsolidierten politischen Beziehungen zur Kurie, bemerkbar, jetzt wohl Zeichen einer selbstbewußteren Emanzipation des normannischen Königtums, wie sie auch in der Kehrtwende der sizilischen Politik in den 1180er Jahren deutlich wird.79 Anders liegen die Dinge eine Generation später, als die Kanzlei um 1220, in einer Zeit des guten Einvernehmens zwischen König/Kaiser und Papst, durch eine kirchlich gesinnte Gruppe um den Kämmerer Richard dominiert wurde und sich dies auch in den Königs- und Kaiserurkunden niederschlug.80